06. Manifest des Jugendtheaters der Zukunft

Die Zukunft wird zeigen, wie das Theater der Zukunft aussehen wird, denn es gibt kein Vakuum. Sie können keinen Weg zum Theater der Zukunft finden. Wenn wir heute über das russische zeitgenössische Theater sprechen, fragen wir: Ist eine Person bereit, für 6 Jahre ins Gefängnis zu gehen? Ist eine Person bereit, sein eigenes Leben nicht zu haben? Theater müssen heute eine Entscheidung treffen, die der Ethik der Kunst zuwiderläuft: entweder staatlich unterstützt oder politisch zu sein. In Staatsbesitz zu sein bedeutet, nicht das Recht zu haben, auf das zu reagieren, was geschieht, auf die Gesellschaft, auf die Politik, auf die Kultur. Autonom und politisch zu sein bedeutet, Risiken einzugehen und Angriffe des Staates und der Hasser ständig abzuwehren. Dies ist kein Arbeitsformat. Sobald Sie versuchen, mit dem Theater auf Ereignisse zu reagieren, können Sie mit einem beliebigen Artikel ins Gefängnis gehen. Theater in Russland ist ein Privileg. Die Menschen haben nichts zu essen und sie haben eine Forderung nach Überleben, nicht nach Theater. Es ist naiv zu glauben, dass das Theater Russland verändern wird. Dies ist jedoch ein gutes Instrument für das Wachstum des Selbstbewusstseins und ein Raum für Konzentration.


Yulia Tsvetkova

Manifest

Einleitung
Die Autor*innen dieses Manifests sind die Schauspieler*innen des Jugendaktivist*innen-Theaters „Merak“, das sowohl von der derzeitigen Leiterin und Künstlerin Yulia Tsvetkova, als auch von uns 2018 in Komsomolsk-on-Amur (Region Chabarowsk, Russland) gegründet worden ist. Wir glauben, dass das Manifest ein Weg ist, uns mitzuteilen. Wir wollen, dass Menschen keine Furcht davor haben, die Theater zu öffnen und sie dafür zu benutzen, die wirklich wichtigen Themen unserer Zeit zu verhandeln. Wir wollen, dass solche Theater selbstsicher agieren können und glauben, dass eine solche Theaterkultur sich gerade in Russland entwickelt, auch dank uns, dem Merak Theater, und vielen weiteren Freien Bühnen und kreativen Gruppen in Russland. Wir wollen nicht, dass der Eindruck entsteht, es gäbe keine Kultur in Russland. Denn die Kultur ist da. Wir hoffen, dieses Manifest wird uns helfen, uns zu verbünden und gemeinsam für Kunstfreiheit und für die Freiheit der Selbstentfaltung zu kämpfen.
Der Staat, die Strafverfolgung und die Kunst
Wir fordern den Staat auf, sich nicht in die Kunst einzumischen. Kunst ist nicht etwas, das systematisiert oder gemanaged werden kann. Kunst ist der Ausdruck von Persönlichkeit. Manchmal hat eine Person mehr als nur eine Persönlichkeit. Alle erschaffen Kunst heutzutage und dies kann nicht kontrolliert werden.

Der Staat sollte nicht in den kreativen Prozess eingreifen und dessen Regeln bestimmen. Jedes Theater, dessen Mitglieder und Mitwirkende, erschaffen ihre eigene Regeln und einigen sich darauf. Um diese zu verstehen, können Gesetzeshüter*innen das jeweilige Theater dazu auffordern, eine Meisterklasse bereitzustellen oder offene Proben.

Kunst verhandelt Freiheit. Hier wird man nur durch die eigenen inneren Grenzen kontrolliert. Die erschaffende Person muss selbst verstehen, worüber sie reden kann. Der*die innere Zensor*in ist die einzige Instanz, die die erschaffende Person in ihrer Kunst limitieren sollte. Deswegen muss Kritik von außerhalb eine Meinungsäußerung sein oder ein Kommentar ohne Beleidigungen und Schikane.
Verantwortung des Staates, kultureller und soziokultureller Institutionen
Wir wollen, dass die Bewegung zur Entwicklung der Kulturszene in ganz Russland gefühlt wird und dass sie aktiv und nachhaltig ist. Aus diesem Grund müssen mehr Festivals und Wettbewerbe veranstaltet werden, bei denen Kinder und Jugendliche sich selbst, aber auch ihre Bedenken durch Theaterarbeit ausdrücken können.

Um Missverständnisse zwischen Erwachsenen und Kindern, dem Staat und dem Theater zu vermeiden, ist es wichtig, die Qualifikationen aller Kulturproduzent*innen und Schauspieler*innen, sowie von Lehrer*innen beständig zu verbessern: Veranstaltet vielerlei Meisterklassen, Lesungen und Gemeindetreffen für sie.

Es ist die Verantwortung des Staates:
1. Räumlichkeiten für Theater bereitzustellen;
2. Vorteilhafte Arbeitsverhältnisse zu schaffen. Jeder Ort (Großstadt, Kleinstadt, Dorf etc.) in Russland sollte eine frei zugängliche Plattform für Erfahrungsaustausch haben, ohne Druck vonseiten der Verwaltung zu verspüren;
3. Die Finanzierung von Theatern und den Menschen, die dort arbeiten, durch ein Subventionssystem zu unterstützen
Die Gestaltung des Jugendtheaters der Zukunft
1. Demokratie im Jugendtheater
Theater sollten unter keine staatliche Einschränkungen oder andere Arten der Beeinträchtigung von oben gestellt werden.

2. Gleichstellung und Solidarität mit der Theatercommunity
Theater können überall organisiert werden. Das schließt auch Klassenzimmer ein. Dies schmälert keinesfalls ihren Wert oder macht sie schlechter als Staatstheater. Gegenseitiger Respekt sollte gefördert werden zwischen Schauspieler*innen und Regisseur*innen und keinerlei Schikane
darf in der Community toleriert werden. Themen und Theaterformen, die verwendet werden, können alles sein. Theater kann alles sein.

3. Inszenieren am Jugendtheater
Theater sollten ein Umfeld fördern, in dem Kinder interessiert daran sind, ihre eigenen Stücke zu inszenieren. Lehrer*innen sollten den Kindern zuhören und ihre Bedürfnisse und Ideen respektieren. Kinder können die Stücke überall proben, auch draußen. Es sollte mehr freie Theater geben, die Performances zu jeglichen Themen bieten. Der*die Regisseur*in ist nicht wichtiger als die Schauspieler*innen. Schauspieler*innen sollten ihre eigenen Rollen wählen können und auch, wie sie sie inszenieren möchten.

4. Faire Kooperation im Jugendtheater
Im Theater sind alle gleich. Jede Person nimmt Teil an der Diskussion und das Durchdenken des Themas und des Skripts. Im Theater wird kollektiv entschieden. Es ist also eine Community, eine Gemeinschaft. Kinder sollten in all diese Prozesse genauso involviert sein wie Erwachsene: bei den Kostümen, dem Bühnenbild, der Dramaturgie, Regie, Technik etc.
Kinder- und Jugendtheater sollten von den Mitwirkenden, deren Eltern und den Einwohner*innen der Stadt unterstützt werden, weil das Theater immer da ist für die Stadt.

5. Diversität und Inklusion am Theater
Das Theater stellt einen angenehmen Raum für alle Kinder, Teenager und jungen Erwachsenen bereit. Der Ort und die Arbeit sollten dabei auf inklusive Weise organisiert sein. Alle Menschen, ungeachtet ihrer Genderidentität, ihres Geschlechts, ihrer Gesundheit und Neurodiversität, sozialen Status und Hintergrunds können Teil des Theaters sein.
Das Theater berücksichtigt die unterschiedlichen Fähigkeiten aller Schauspieler*innen. Das Alter der Schauspieler*innen ist nicht ausschlaggebend. Theater sollten keine Form von Altersdiskriminierung, Ableismus, Rassismus oder andere Formen von Diskriminierung tolerieren.
Die lokale Verwaltung, im Gegenzug, muss die Theater mit einer adäquaten Infrastruktur ausstatten, so dass es allen erleichtert wird, Proben und Performances zu besuchen.

6. Solidarität trotz problematischer Umgebung
Wir erleben eine schier endlose Zahl von Fällen, wo Theater schließen müssen und Performances abgesagt werden. Alle Theater, kreativen Gruppen und Kunsträume sollten sich zusammenschließen und Mechanismen der gegenseitigen Hilfe und Unterstützung entwickeln.

Große Häuser sollten unabhängige Bühnen unterstützen, da diese wertvoller sind. Die Community sollte fähig sein, so schnell wir möglich in solchen Fällen zu reagieren und die Informationen über den Druck, der auf den Theatern lastet, zu verbreiten,. Kulturaktivist*innen und Einwohner*innen sollten nicht davor Angst haben, ihre Meinung als Bürger*innen auszudrücken und Solidarität zu zeigen.

Die Fälle von Angriffen und Belästigung sollten offiziell und auf legalem Weg verhandelt werden. Es ist notwendig, öffentliche Stellungnahmen zu solchen Situationen zu verfassen, in den Sozialen Medien darüber zu sprechen und diesen Vorkommnissen mit großer Publizität zu begegnen. Es ist ebenso wichtig, in solchen Situationen Protokoll zu führen: man sollte die Fälle und alles drumherum aufschreiben, Fotos machen und relevante Materialien sammeln. Es ist wichtig, diese Prozesse von Angriffen auf jedes Theater und die Belästigung jeder kreativen Gruppe zu dokumentieren.

Wir ermutigen alle Jugendtheater die UN-Kinderrechtskonvention und andere gesetzliche Unterlagen zu lesen, so dass in schwierigen Situationen eventuelle Rechtsverletzungen erkannt und ausgeschlossen werden können, in dem man sich auf diese Papiere bezieht. Wir glauben, das ist ein wichtiger Schritt in der Ausformung von Zivilgesellschaft.
Fazit
In diesem Manifest teilen wir, die Schauspieler*innen des Jugendaktivist*innen-Theaters „Merak“, unsere Erfahrungen, Ideen und Hypothesen, so dass mehr Menschen beginnen, über die Rolle von Aktivismus und Kunst in ihrem Leben nachzudenken. Basierend auf unseren Erfahrungen und Reflexionen könnt ihr eure eigenen Theater gründen, dieses Manifest weiterführen oder euer eigenes schreiben.

Wir können euch nicht den perfekten Grundriss für das Theatersystem bieten. Es gibt viele Varianten, da Theater auf Persönlichkeiten basiert.
Bleibt frei und vergesst nicht, dass Theater ein Ort des Austausches ist, an dem jede Person die unterschiedlichen Facetten ihrer Individualität ausdrücken kann.
Wir hoffen, dass unsere Erfahrungen und Ideen euch stärker machen werden!


Zusammengestellt von Schauspieler*innen des Theaters "Merak" mit Hilfe von Anna Khodyreva und Kira Schmyreva, übersetzt von Samuela Nickel