YULIAS KINDHEIT
"Die wilden und stürmischen" 90er
Yulia wurde in den “wilden und stürmischen” 90-ern geboren. Ihr Vater erhieltanderthalb Jahre lang kein Gehalt. Sogar für Windeln gab es kein Geld. Das war die Zeit der Freiheit. Jede*r überlebte alleine für sich, so, wie er*sie eben konnte. Heute würde sich vielleicht der Staat in diese Geschichte einmischen, aber damals interessierte sich niemand dafür.

Wir wohnten in einer Siedlung ganz am Rand. Weiter war nur ein Wald mit Wölfen und Wächtern, Pilzen und Beeren. Das Haus war neu: nur die Wände standen. Wir hatten kein Geld, Möbel zu kaufen. Es gab kein Telefon in unserer Siedlung. Mir einen Krankenwagen zu rufen, hat fünf Stunden gedauert. Als Yulia geboren wurde, wurden ihr Lebensunfähigkeit und Zerebralparese diagnostiziert. Man hat uns empfohlen, Yulia im Kinderheim zu lassen und noch ein Kind zu gebären. Wir waren zuerst sehr erschrocken, aber dann haben wir verstanden: Wir können viele Probleme selbst lösen. Wir haben gleich am Anfang auf die traditionelle Medizin verzichtet. Mein Mann war damit einverstanden. Wir hatten keinen Zweifel daran, dass wir es schaffen. Als Yulia neun Jahre alt war, ist ihr Vater verschwunden. Seitdem lebten wir zu zweit.
Unser Haus war für Kinder gemacht
Es gab eine großes Stadion, viele Kissen. Die Wände waren mit Bildern bedeckt, verschiedene Häuser wurden gebaut, in der Mitte gab es Reifen, wie Trampoline. Nur mit dem Stillen ging es langsam. Als Yulia älter wurde, haben wir sie nie gezwungen, zu essen, was sie nicht mag. Die ganze Familie aß, was sie mochte. Ich habe gesagt: Ich werde nicht für jeden separat kochen.

Unsere ganze Kleidung habe ich selbst genäht und gestrickt. Ich überlegte mirbequeme Schnallen und Klettverschlüsse. Zuerst gab ich Yulia den Stoff zum Berühren und Spielen, erst danach wurde etwas daraus gemacht. Wenn wir eine bequeme Kleidungsform fanden, machten wir mehrere Kleidungsstücke verschiedener Farbenach dem gleichen Muster. Zum Beispiel: Um nicht wegen Pullovern, die hochrutschen, zu leiden, habe ich Badeanzüge genäht. Wir hatten viele davon, in verschiedenen Farben und aus verschiedenen Stoffen. Wenn Yulia uns bat, ihr etwas zu kaufen, sagten wir: Mal es auf und wir machen es selbst. Als Yulia zwei Jahre alt war, hat sie angefangen, Kleidung selbst zu nähen, natürlich mit meiner Unterstützung.
Für Yulias Erziehung und Entwicklung habe ich die ganze Verantwortung auf mich genommen.
Ab dem Alter von vier Monaten gab es regelmäßigen Unterricht. Ich machte mir einen Stundenplan für jeden Tag. Unbedingt Englisch (Audiokassetten), unbedingt Malen auf verschiedene Arten, Vorlesen, Bauen, verschiedene Kletterarten, Kochen…Wir hatten immer einen Computer zuhause und wir haben uns verschiedene CDs mit Bildungsprogrammen angeschaut. Mit Computern war das Geschäft von Yulias Vater verbunden. Fast alle Spielzeuge nähte oder knetete ich selbst. Wenn wir etwas kauften, war es teures, echtes Markenspielzeug. Und dazu wurden dann verschiedene Kleidungssets genäht und passende Lebensmittel geschaffen.

Wir hatten schon früh eine Kamera. Wir machten Videos über die Natur: wie Libellen aus dem Wasser kriechen und ihre Flügel trocknen, wie Schmetterlinge aus ihren Kokons erscheinen, das Leben der Frösche. Wir waren viel im Wald unterwegs, wir hatten keine Angst. Wir machten Wanderungen zum Tagebau, schwammen dort. Yulia lernte schwimmen, als sie zwei Monate alt war, und schwamm dann immer. Am Tagebau konnten wir Lehm ausgraben, etwas daraus modellieren und es dann späterbemalen.

Yulia hatte zwei Kindermädchen. Sie waren beide 11 Jahre alt. Ich brauchte Zeit zum Nähen, Stricken und traf eine Vereinbarung mit den Mädchen. Sie kamen zu uns nach Hause, lasen Yulia vor und spielten mit ihr. Das Dorf "Druzhba" ("Freundschaft") war zu dieser Zeit ein Ort verlassener Kinder, die Eltern verdienten Geld, die Kinder waren ohne Aufsicht. Ich verstand, dass Kinder Gesellschaft brauchen, um zu wachsen. Da ich sowieso mit Yulia zuhause war, kamen viele Kinder von selbst zu uns, um zu spielen oder zu klettern. Als wir in den Wald gingen, nahm ich alle mit, die wollten. Yulia wuchs im Alter von 1-3 Jahren unter Kindern im Alter von 7-13 Jahren auf. Wir gingen durch die Ateliers der Künstler*innen, hinter die Kulissen der Puppen- und Dramatheater. Während ich Yulia etwas beibrachte, lernte ich viele Dinge. Es war schwierig, sie zu unterrichten, fast keine*r der Lehrer*innen konnte mit ihrem starken Charakter fertigwerden. Deswegen musste ich ihr alles selbst beibringen.
ANNA KHODYREVA
Mutter von Yulia Tsvetkova und Intendantin des aktivistischen Jugendtheaters "Merak"
Ich bin in einer Familie geboren, wo ich nicht über die adligen Wurzeln reden durfte. Alle hatten Angst davor. Aber meine Mutter nahm mich immer ins Theater, brachte mir bei, schön zu schreiben, zu malen. Danach hatte ich verstanden, dass das einer klassischen adligen Bildung entsprach. Jedes Jahr fand das Festival "Theaterfrühling" statt. Ich mochte die Stücke eines Volkstheaters.

Als ich 14 wurde, sagte meine Mutter, dass dieses Theater offene Ausschreibungen hat. Sie schlug mir vor, mich zu bewerben, und erzählte, dass der Intendant des Theaters Michail Sales (Schauspieler) ist. Er wohnte im Haus, wo der Kindergarten meiner Mutter war. Sein Kind ging nicht ganz offiziell in diesen Kindergarten. Der Kindergarten war privat. Aber meine Mutter hatte sein Kind trotzdem aufgenommen, weil sie das Theater und die Schauspieler*innen liebte.

Ich ging hin. Dort gab es eine große Menge an Menschen, alle erwachsen. Ich wurde gefragt, wer ich bin, was ich mache. Ich wurde nicht aufgenommen, weil ich zu jung war. Dann hatte ich die "Verwandschaft" mit meiner Mutter genutzt und wurde aufgenommen. So kam ich ins Zauberland der erwachsenen, klugen Menschen, interessanter Treffen und Theaterproben bei Nacht. Meine Mutter mochte nicht, dass ich nachts unterwegs war, aber mein Geist war stärker und ich hatte sie überzeugt. Es gab nur eine Bedingung: Egal, wie spät ich von den Proben zurückkam, musste ich um 5 Uhr morgens aufstehen und, ohne zu meckern, den Boden in der Wohngemeinschaft wischen. Wir lebten ohne meinen Vater. Es war nicht genug Geld für uns. Das war wie ein Zusatzeinkommen. Ich befolgte die Regel und meine Mutter ließ mir meine nächtlichen Proben.

Als ich 18 wurde, wusste ich nicht, was ich wollte. Ich machte eine Ausbildung an der pädagogischen Schule. Dort herrschten die Konditionen wie bei der Polizei und nach einem Halbjahr hatte ich die Ausbildung abgebrochen. Ich hatte 10 Klassen in der Schule für die arbeitende Jugend abgeschlossen. Das war ein komischer Ort. Ich wusste nicht, was ich weiter machen sollte.

Dann geschah viel nacheinander. Der Regisseur Sales wurde plötzlich der Hauptregisseur des Theaters. Das Gebäude des Theaters wurde wegen Renovierungsarbeiten geschlossen und das Ensemble sollte auf Gastspielreise nach Wladiwostok fahren. Der Regisseur gestaltete das Team neu. Viele von meinen Freund*innen kamen in dieses Team. Ich wollte auch. Ich hatte keine passende Ausbildung und wurde als Regieassistenz angestellt.

Die Perestroika begann. Im Theater wurden früher verbotene Stücke inszeniert. Drei Jahre waren diese Menschen meine große Familie. Wir gingen von einer Stadt zur anderen, traten auf, probten. Und klar: Zusammen im Pyjama eine Schlange vor der Gemeinschaftstoilette zu bilden schafft Nähe. Wenn du bei jemandem Pelmeni direkt aus dem Wasserkocher isst, schafft es auch Nähe. Ich hatte also eine sehr außergewöhnliche Erfahrung. Ich war Nomadin und suchte nach den Abenteuern. Das Theater hat mir all das gegeben. Nach drei Jahren wurde das Theater renoviert. Das Ensemble ist zurückgekommen. Unser Regisseur wurde starr. Das experimentelle Theater verschwand und so ging auch ich. Anscheinend lehnt mein Geist alles Staatsbürokratische ab.

Ich mochte die Zweiteilung nicht. Die Schauspieler*innen waren privilegiert. Die Techniker*innen waren die Sklav*innen. Sogar während der Gastspielreisen konnte ich es fühlen: die Schauspieler*innen fahren zu einem privaten Strand und in einem Zugabteil der 1. Klasse. Das schien mir ungerecht. Ich konnte nicht verstehen, wer den Wert der Menschen misst. Als wir nach den dreijährigen Gastspielen in die Stadt zurückkamen, wurde diese Zweiteilung noch stärker. Unser Regisseur war einer der Repressierten. Er war sein ganzes Leben lang unterdrückt worden und entwickelte eine Paranoia, verfolgt und verletzt zu werden. Jetzt verstehe ich ihn, aber damals war es seltsam, dass man große Versammlungen organisierte nur, weil jemand jemanden nicht begrüßt hatte.
YULIA UND DAS THEATER

Ich mag den Roman von Somerset Maugham "Yulia, du bist zauberhaft" (Englischer Titel: "Theatre"). Dort wird gesagt: das ganze Leben ist ein Theater. Theater ist das wahre Leben.

Anna Khodyreva

Ich bin zufällig, über einen Bekannten, ins Kulturhaus gekommen und habe dort dann 21 Jahre gearbeitet. Ich habe nur eine Anzeige in der Zeitung aufgegeben und schon hatte ich genug Menschen für 3-4 Gruppen. Sehr schnell habe ich verstanden, dass “Einfach-So”-Malen für mich nicht interessant ist. Naja, du malst 20 Blumen und dann? Ich liebe Geschichte, verschiedene Wissenschaften. Deswegen ist das Konzept entstanden, enzyklopädisches Wissen durch Malen zu vermitteln. Ich habe verschiedene Informationen gesammelt: über das Weltall, den Ursprung der Dinosaurier, Ägypter, Sumer, Babylon, griechische Mythen… Ich habe gelernt, bildlich und verständlich zu sprechen, nicht wie in der Schule, ich habe verschiedenes Lehrmaterial entwickelt. Sehr schnell formte sich eine Gemeinschaft aus den Eltern: Mütter, die spannendes Wissensvermittlung für ihre Kinder wünschten und keinen Kindergarten wollten. Unsere Kinder hatten Unterricht in Singen, Aerobic, Schwimmen, Französisch, Englisch, Theater und Malen all das als ein Instrument, um die Welt zu verstehen. Gegessen haben die Kinder im Café, Mittagessen inklusive. So ging das etwa zwei Jahre.

Ich denke, es war für uns alle eine schwere Zeit in Komsomolsk, aber gemeinsam haben wir eine Welt aus Liebe und Abenteuer, verschiedenen Beschäftigungen und sozialen Werten geschaffen.

Wenn nichts anderes anstand, arbeitete ich. Yulia arbeitete mit mir zusammen. Für eine Vierjährige ist es schwer, drei Stunden lang zu malen, deswegen ließ ich Yulia durch das Kulturhaus wandern und auf die Bühne klettern. Yulia fand andere Kinder und trieb sich mit ihnen herum.

Wir machten Theater nicht mit Absicht. Wir haben einfach griechische Mythen inszeniert, um sie uns besser zu merken, oder spielten Weltall-Turnübungen. Seit Yulia vier Jahre alt war, wurde sie gebeten, während unserer Feiern mit den anderen Kindern im Raum nebenan zu spielen, damit die Erwachsenen in Ruhe sitzen konnten. Seit Yulia 6 Jahre alt war, hat sie angefangen, Theater während dieser Feiern zu machen. Die Kinder haben geprobt, die Eltern geredet. Dann lud Yulia alle ein. Wir kamen, schauten zu, lobten und gingen zurück. Yulia arbeitete an einer neuen Inszenierung.

Theater als Kurs mit den anderen Pädagog*innen war sehr klassisch: mit Theaterspielen für das Gedächtnis, die Aufmerksamkeit und mit Rollenverteilungen. Yulia besuchte diesen Kurs fünf Jahre lang. Ich kann nicht sagen, dass ich es bedauere, aber sie erinnert sich an diesen Ort nicht. Das bedeutet: Es war dort nicht so toll.

Ich versuchte die Schule und das Leben zusammenzubringen, ich sah Yulias super Gedächtnis und die schnelle Lerngeschwindigkeit. Ich dachte an eine diplomatische Karriere und an ein Studium an dem Moskauer Staatlichen Institut für Internationale Beziehungen (MGIMO). Wir mussten einen weiten Weg zurücklegen: angefangen bei den Forderungen, ausgezeichnete Noten zu bekommen, bis hin zu der Erlaubnis, die Schule nur noch selten zu besuchen und schließlich dann mit 15 Jahren die Schule ganz abzubrechen. Nun begann Yulia einen professionellen Tanzkurs und lernte Japanisch. Als sie 17 Jahre alt war, schickte ich sie nach Moskau, wo Parkour dazu kam. Dann kamen London und viele Reisen. Fast eine absolute Isolation von den staatlichen Institutionen und ein riesiges Vertrauen von meiner Seite. Die Erlaubnis "erwachsene" Projekte zu machen, acht Sprachen fast parallel, eine bereichernde Umgebung: schließlich hat das Leben gewonnen. Jetzt sehe ich, dass das Leben Yulia hilft, auch in dieser Situation zu überleben.
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