Während des ersten Lockdowns vermissten einige Menschen die „Normalität“. Aber die Normalität ist diese Krise, da sie Trennung, Isolation und Infrastrukturen erzeugt, die unseren Körper und die Natur weiter zerstören. Die Pandemie hat wieder einmal gezeigt: Unser Leben ist verletzlich, und manche Leben sind mehr als andere. Der Ausweg besteht darin, Raum und Zeit anders zu denken. Wir brauchen mehr Geschichten über Praktiken der Fürsorge und Barrierefreiheit, über behinderte Künstler*innen und Aktivist*innen und ihre wertvolle und unermüdliche (Bildungs-)Arbeit.
Zugänglichkeit ist in letzter Zeit im Kontext der Kunst ein Schlüsselwort geworden. Während der Corona-Lockdowns mussten die Kultureinrichtungen mit ihrem Programm online gehen. Der virtuelle Raum füllte sich mit Diskussionstreffen, 3D-Ausstellungen und Videoperformances. Die Zuschauerzahlen stiegen, die zu Hause festsitzenden Menschen konnten sich online am Kulturleben beteiligen, die Referent*innen brauchten nicht mehrere Hundert Kilometer mit dem Zug, Auto oder Flugzeug zurückzulegen, um für anderthalb Stunden bei einem Treffen zu erscheinen, was für konkreten Nutzen für die Umwelt gesorgt hat. Eine sehr geringe Anzahl an Events war allerdings für Personen mit ihren individuellen Bedürfnissen zugänglich: für ältere Menschen und Kinder, für taube oder blinde Meschen und Menschen mit Lernbehinderung etc.
Wie machen wir öffentliche Räume, auch Kunstinstitutionen, für Menschen mit unterschiedlichen Bedürfnissen zugänglich und berücksichtigen dies von Anfang an in Architektur, Kommunikation, bei der Arbeit an den Projekten? Es ist von entscheidender Bedeutung, das öffentliche Bewusstsein für diese Ausgrenzungsprobleme zu schärfen und erhebliche finanzielle Mittel bereitzustellen, um den Wandel umzusetzen. Zur Zeit liegt die Verantwortung für die Schaffung von „bewohnbaren Welten”, wie Nancy Mairs sagt, bei den prekarisierten Mitarbeiter*innen im Bereich der Kultur und Verwaltung, deren lange Liste beruflicher Zuständigkeiten um die Gewährleistung der Zugänglichkeit erweitert wurde, selbstverständlich ohne eine entsprechende Lohnerhöhung. Die Zugänglichkeit ist keine lästige Pflicht, die sich mal so eben nebenbei abhaken ließe. Sie sollte zu einer Priorität, einer politischen Forderung werden.
Es geht darum, Machtstrukturen in Institutionen zu kritisieren. Wie die Behindertenaktivistin Alice Wong sagte: „Behindertengerechtigkeit ist einfach ein anderer Begriff der Liebe“. Zugang bedeutet gleichberechtigte Anerkennung behinderter Menschen und Veränderung nicht behinderter Menschen und ihres Handelns und Denkens in allen Räumen, auch in denen, die sich bereits selbst als kritisch sehen. Kuratori*in Noa Winter (Berlin, Deutschland) schreibt, dass selbst nichtbehinderte Feminist*innen „denjenigen marginalisierten Personen, die jenes Wissen (über Barrierefreiheit und digitalen Zugang) mit unglaublicher Mühe und in einem nicht endenden schmerzhaften Prozess erarbeitet haben und immer wieder in meist unbezahlter, emotionaler Mehrarbeit an ableistisch strukturierte Institutionen und nicht behinderte Feminist*innen gleichermaßen vermitteln” nicht danken.
Mit dem internationalen Symposium „Politiken der (Un-)Zugänglichkeit“ wollen wir verschiedene Arten der Zugänglichkeitsarbeit betrachten sowie die Situation im polnischen, deutschsprachigen und russischen Kontext erforschen. Das Symposium, deren erster Teil in hybrider Form und der zweite online auf Zoom stattfinden wird, besteht aus zwei Events: der Podiumsdiskussion „Demokratisierung der Zugänglichkeit“ und dem Webinar „Kunst und Leben in extremen Bedingungen“. Das erste nimmt die institutionelle Realität und anti-ableistischen Strategien behinderter Künstler*innen und Aktivist*innen, die mit Institutionen arbeiten oder ihre eigene Projekte haben. Die zweite Begegnung nimmt als Ausgangspunkt die Situation der Künstlerin und Aktivistin Yulia Tsvetkova (Komsomolsk-am-Amur, Russland), die wegen ihrer intersektionalen Tätigkeit und Kämpfe für die Menschenrechte zu einer politischen Gefangenenen in Russland wurde. Leider ist Menschenleben nicht geschützt. Während Yulias Freiheit von örtlichen Strafverfolgungsbehörden in Komsomolsk am Amur (Russland) bedroht werden, werden in Polen feministische Aktivist*innen wegen ihres Protests gegen das Abtreibungsverbot vor Gericht gestellt. Überall sind behinderte Menschen in Pflegeheimen und ähnlichen Einrichtungen täglich von Gewalt bedroht. Im April 2021 wurden vier behinderte Menschen in einem Potsdamer Pflegeheim getötet. In Russland können Tausende von Menschen den Mauern der psycho-neurologischen Internats nicht entkommen, in die sie nach ihrem 18. Lebensjahr geschickt werden. Wir werden den polnischen, russischen und deutschen Kontext vergleichen und überlegen, welche Strategien angesichts systemischer Unterdrückung, ableistische Strukturen angewendet werden können.
Vor dem Symposium, seit Anfang Juli bis Ende August, stellen wir Videos von Künstler*innen, Aktivist*innen zur Verfügung, in denen sie die Situation kontextualisieren, eine Person mit individuellen Bedürfnissen zu sein in einer Welt, die für die Dimension des „Universalmenschen“ zugeschnitten ist, d. h. eine Person, die einem fiktiven körperlichen, neurologischen und psychischen Gesundheitsstandard entspricht. Die meisten Videos sollen eine Audiodeskription sowie Untertitel auf Polnisch, Deutsch und Englisch erhalten.